Ich wurde 1970 in Oldenburg geboren.
Ich vermute authentisch herzlich, mit Krach und Wumm. Herrlich und doch völlig überrumpelt – für meine Mum, die bereits aus Erzählungen ganze vier Wochen auf mich gewartet hatte.
Wahrscheinlich war ich eine nicht eingeplante, überraschende, heftige Brise. Ein Indian Summer im kühlen Norddeutschland. Schon der geschriebene Satz und Gedanke: ein nicht vorhergesehener Match im Wikipedia oder Lexikon und vor allem vollkommen unbekannt im kühlen Norddeutschland.
Indian Summer, farbenfroh, eventuell leicht heimelig, warm und bunt, konkurriert im Wettkampf mit frischer (kühler) Brise und grauem Flirrelicht, wie die meisten Nordeutschen es sich eher nicht vorstellen können.
Hot meets Cold. Crazy meets Smart. Silence meets Action.
Summer of 1976
Mein Dad hatte 1976 ein attraktives und aufregendes Angebot erhalten. Nicht NYC, aber FRA, Frankfurt am Main. Ein Sprung in eine neue Welt. Ein Flieger, ein Flugingenieur, muss in the middle of the „Top Airliner Spot“ innerhalb von Deutschland.
Für mich, damals sechs Jahre alt, fühlte sich das an wie ein Sprung in eine neue Welt.
Alles wirkte fremd, aufregend, größer, als alles, was ich bis dahin kannte. Wir zogen ins Hessische, in ein Hochhaus. Der Ort war durch einen Song bekannt – mit Baggersee und einem verrückt hohen und breiten Hochhaus, das den Namen eines chinesischen Weltwunders trug.
Nicht nur bei uns Bewohnern, alle nannten unseren Wohnort „China-Mauer“. Und sogar heute hält sich dieser Name wie ein Echo aus alten Zeiten. Unzählige Klingeln, ein spukender Aufzug, der manchmal in den Keller fuhr, ohne dass man es wollte.
Komischerweise begann ich erst ab da, mein Leben wirklich zu fühlen und zu sehen. Alles davor war wie ein Fotoalbum mit fehlenden Seiten. Ich meine es ernst. Es ist, als ob ich erst ab diesem Tag, diesem Zeitpunkt lebe. Mich an mein Leben erinnere. Ab da begann ich, mein Leben wirklich zu fühlen und zu sehen.
1980 – Große Schwester und amerikanische Abenteuer
1980 wurde ich große Schwester.
Ich wurde aus dem Unterricht geholt, das war damals – und ich bin nicht im Bilde darüber, wie es heute ist – etwas sehr Besonderes. Es kam jemand aus dem Sekretariat in das Klassenzimmer, flüsterte dem Lehrer was ins Ohr und der rief einen Namen auf, in dem Falle meinen. Ich durfte den Unterricht verlassen und durfte raus in das Foyer, weil ich abgeholt wurde.
Eine aufregende Fahrt ins Krankenhaus, damals nach Langen.
Ein wunderschöner, ganz besonderer Tag. Ich war gewissermaßen von Anfang an dabei, eher als mein Dad, denn ein Flug mit Auslandsaufenthalt hatte die nicht auf die Minute vorhersehbare Geburt seiner Zweitgeborenen verhindert.
Ein echtes, warmes Glück. Ich war bis dato ein Einzelkind. Ich wusste nicht, was mir gefehlt hätte. Bis zu dem Tag, als ich große Schwester werden durfte.
Welcome, Sisty! Love You!!!!!
Ich liebte es schon, allein beim Heranwachsen dabei zu sein. Meine Mama, 37, wunderschön, stolz auf das Baby in ihrem Bauch, nicht nur sie, alle Frauen um uns herum waren es, gar eifersüchtig, wie ich damals schon im jungen, unerfahrenen Alter gespürt hatte.
Nie vergessen: das glücklichste Lächeln, eine souveräne Ausstrahlung von Sicherheit, Stolz. Impulsivität, eine Liebe zum Leben, die ich bei meiner Mum so in der Form später nie wieder so erlebt habe.
Einem Menschenleben in die Welt zu helfen, ihm Leben zu schenken, ihm die ersten Wochen und Monate behutsam und beschützend zu begleiten, ist etwas Besonderes. Etwas Unvergleichliches. Etwas Einzigartiges und eigentlich für jede werdende Mutter Unbeschreibliches.
Ich werde das Lachen auf dem Gesicht meiner Mum nie vergessen. Dazu Ihr cooles, stylishes Latzhosen-ähnliches Kordkleid. Ich habe sie gefeiert und das Bild ist fest in mir verankert und kann mir niemand mehr nehmen.
Ich war stolzes Schwesterkind, ich war stolz auf meine wunderschöne, einzigartige Mama. Sie war der Star unter allen anderen.
USA next door
Irgendwann kamen stationierte Amerikaner nach Rodgau. Wir hatten einen PX-Laden, next zu unseren Blocks der chinesischen Mauer, und ich durfte Babysitten für eine amerikanische Familie – ich liebte es!
Tuna-Sandwiches, Butter-Pecan-Häagen-Dazs-Ice-Cream, die erst Jahre später in die normale Welt zu uns kamen, die neuesten Filme, die hier erst Jahre später im Kino liefen oder im Fernsehen kamen. Cyndi Lauper, Girls Just Wanna Have Fun …
Ich konnte super Englisch sprechen – genau das hat später sicherlich auch bei meinem raketenähnlichen Start bei FedEx geholfen.
Wir Kids hatten eine große Clique, spielten auf dem Spielplatz auf der Rollschuhbahn und rannten im Sommer lachend durch die Rasensprenger. Sommerfeste mit Wein für die Erwachsenen, Erfrischungsgetränke für uns Kids, Gespräche der Erwachsenen, bis tief in die Nacht. Verstecken spielen der Kids in den unzähligen Gängen, Stockwerken und Ecken des imposanten Anwesens.
Freiheit, Gemeinschaft, Heimat – einfach unsere kleine Community.
Maisonette-Wohnungen im amerikanischen Stil, auf mehreren Ebenen, Weitblick ab der 1. Etage. Einerseits sah man den Odenwald, andererseits die Einflugschneise Richtung Frankfurter Flughafen.
Ich konnte meinem Dad auf jedem Heimflug fast zusehen, wie er sicher landete – vom ersten Stock des Hochhauses, aus Sichtweite und mit eifrigem Winken aus meinem Kinderzimmer heraus …
1986/87 – Erste eigene Wohnung
Mein Papa meinte dann eines Tages, er bräuchte einen ruhigen Rückzugsort. Zum Lernen. Piloten lernen nie aus. Müssen sich weiterbilden, wollen sich weiterbilden, haben wichtige Check-Ups’s. Meine Schwester war 7, ich 17, und wir alle zusammen mit meiner Mum in einer 4-Zimmer-Wohnung. Nichts Außergewöhnliches.
Ich solle in ein kleines Zimmerappartement im gleichen Haus ziehen. Meine Eltern in absoluter Reichweite im ersten Stock, ich weiter oben, im vierten.
Erschrocken und erbost dachte ich zuerst: „Oh nein, die möchten mich loswerden.“
Meine Freunde sahen es anders: „Mega! Du wohnst allein, cool!“ Man konnte sogar mit Flip-Flops, gar im Bademantel oder Jogginganzug runter zur Homebase, nach Hause: zu den Mahlzeiten, zum Treffen, zum Austausch … fast wie in einem Mini-Hotel.
Und: Wollt ihr wissen, wie es ausging?
Ja, klar bin ich nach dem ersten Entsetzen zu dem gleichen Entschluss wie meine Freunde gekommen.
Wie geil. Ein erstes eigenes Heim, ohne Eltern, trotzdem nah. Die Nabelschnur noch sichtbar und trotzdem genügend Raum, sich selbst zu entfalten, und bezahlt von Papi. 🙂
Konzerte – A-ha & Die Toten Hosen
Mein erstes großes Konzert: A-ha am 22. November 1986 in der Festhalle Frankfurt. Ich wollte besonders auffallend aussehen, es wurde „nur“ ein rosa Sweatshirt – basic, schlicht. Ich war so stolz und fand mich so besonders, und ich könnte es dennoch heute nachschneidern, so fest ist es in meinem Gedächtnis.
Es war super heiß in der Halle. Ein T-Shirt war schon zu viel auf der Haut, ich war völlig verschwitzt, aber glücklich. Ich liebte Morten, den Frontmann.
Danach folgten – extremer Switch – eines Tages die Toten Hosen in der Stadthalle Offenbach – ich war angepasst. An meinen Freundeskreis, an die Jungs, die ich beeindrucken wollte …
Nach den Toten Hosen dachte ich, ich hätte einen Tinnitus. Der Typ, für den ich mitgegangen war, hatte sich längst als uninteressant entpuppt … und am nächsten Tag in der Schule hatte ich enorme Konzentrationsprobleme und ein unsagbar lautes Piepen im Ohr. Never ever again!
Irgendwann später war es ein Ozzy-Osbourne-Konzert in Hannover, mit Übernachtung im Auto. Ich habe einerseits jede Sekunde geliebt und gleichzeitig die Nackenschmerzen nach der Nacht im Auto bereut. 🙂
Mit dem Jungen, der Fan des Sängers war, war ich auch nicht mehr lange zusammen gewesen … Aber: You only live once. Und ich war dabei!
1990 – Abitur & Ausbildung & erste Pläne
Nach meinem Abitur 1990 habe ich ernsthaft überlegt, ein Jahr die Welt zu erobern, zu erkunden, kennenzulernen – so wie mein Papa, von oben und unten.
Ursprünglich kam die Idee der Luftverkehrskauffrau auf – aber Mathematik und ich waren kein Dream-Team.
Also startete ich überzeugt die Ausbildung zur Speditionskauffrau, die ich erfolgreich abschloss. Ein weiteres, kurzes Überlegen kam auf: Vielleicht doch ein BWL-Studium oder Ähnliches dranhängen? Innenarchitektin fand ich auch spannend. – Aber da war wieder Mathematik gefragt. 😉
Aber dann habe ich mir gedacht: „Hey, ich möchte jemand sein, der die Welt auch allein erobern kann, unabhängig sein möchte. Klar, ich hatte immer den Wunsch, Mama zu werden und eine Familie zu haben, aber ich wollte ganz klar für mich selbst einstehen, was ich will.
Nach der Ausbildung wollte ich mehr, ich wollte alles: Also los, näher ran an den Flughafen: ultimatives Drehkreuz zur Welt. Und dann mal schauen, was so passiert …!
Bäng: Dann kam der US-Riese FedEx, und ich weiß nicht, wer sich wen schnappte. Und von da an waren wir viele Jahre zusammen. Längste Beziehung ever:-)
Der Geruch von Benzin in jeder geatmeten Minute in der Luft und die Möglichkeit, in jeder Sekunde meines Seins loszumarschieren und mir ein Ticket für den nächstmöglichen Flug zu sichern.
Ready for takeoff. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Und das war wirklich der richtige Step. Genau richtig, weil es mir alle Türen geöffnet hat, die ich später in meinem Leben benötigte.
2007 – Mama werden
Ich habe mein Leben gelebt mit allen Facetten. Hab’ ausprobiert, was ich wollte, hab’ mich ausgelebt, Grenzen erkannt und Grenzen entfesselt. Ich habe geschaut, wie das Leben ist, was mir gefällt, wo ich hinwill, und habe alles ausgelebt, was sich richtig und auch nicht so gut angefühlt hat.
Und dann, endlich, 2007, bin ich Mama geworden. Ich habe mir drei Jahre genommen, um mein Kind großzuziehen, die Basis zu legen, die Säulen zu bauen – damit aus ihm ein starker, glücklicher, zufriedener Mensch wird. Ich wollte alles mitgeben, was mir wichtig war, und gleichzeitig selbst das Leben spüren.
Diese Zeit war intensiv, voll Liebe, voller Lachen, voller Lernen – für uns beide, meinen Sohn und mich.
Neuanfang & Warnschuss
Nach all den Jahren bin ich völlig aufgegangen im Normalsein. Das war für mich ein Ankommen.
Ein Erden. Eine Erfüllung, die sich tief hineingelegt hat. Ich war glücklich. Ich habe nichts gesucht. Mir hat nichts gefehlt. Ich war einfach ich. Echt. Unverstellt. Im Hier und Jetzt. Das war besonders – und es durfte lange bleiben.
Dann, so ab 2013 bis 2016, zogen Turbulenzen auf. Kleine erst, kaum spürbar. Ich habe sie nicht wirklich gesehen. Meine rosarote Brille war stark. Sie hat mich geschützt, getragen, durchs Leben geführt. Manchmal benötigt man diese Brille, um einfach weiterzugehen.
Aber eines Tages kam der Moment, in dem ich merkte: Ich muss justieren. Anpassen. Verändern. Loslassen.
Und das ist nie leicht – primär nicht, wenn es um Menschen geht oder um das Zuhause, das man liebt.
Richtig klar wurde es mir um 2017. Ich habe lange nachgedacht, mit dem Fazit: Ich muss mich freischwimmen.
Freischwimmen von meinem Leben, von meiner Liebe, von meinem Mann, von unserem Zuhause. Es hat wehgetan. Ich habe endlos mit mir gerungen, immer wieder gefragt, ob es richtig ist oder falsch. Doch mein Körper war bedrohlich wegweisend und ehrlich zu mir.
Mein Körper hat mir gezeigt, was gut für mich ist – und was nicht mehr.
Und dann fiel die Entscheidung. Ich bin gegangen. Nicht leicht, nicht schnell, aber bewusst.
Warnschuss & Freischwimmer
Kurz darauf kam der Warnschuss: meine Brustkrebserkrankung. Kurz vor meinem 48. Geburtstag.
Ein Zeichen, das ich nicht überhören konnte. Ja, sie hat Spuren hinterlassen. Aber sie hat auch Türen geöffnet. Ich habe sortiert. Ich habe mein Tempo verändert. Meine Prioritäten neu gesetzt.
Ich bin dankbar – nicht für die Krankheit. Aber dafür, was sie in mir ausgelöst hat. Und dafür, was ich daraus gemacht habe.
Die Herausforderung meines Lebens, der Joker, der Feenstaub, der mich aufrüttelte.
Ich bin nicht untergegangen, ich habe nicht alles perfekt gemacht – aber ich habe gelernt, meinen eigenen Freischwimmer auszusenden.
Und auch heute kann ich sagen: Wow, turbulent war’s, hätte einfacher sein können, aber genau so wollte es das Leben. Ich bin nicht perfekt – muss ich auch nicht sein. Ich liebe es.
Heute – 55 Jahre und still alive
Mit 55 bin ich eine Frau aus Vergangenheit und Zukunft. Ich kenne die Welt von Vinyl bis iPhone, vom Walkman bis Smartphone. Ich habe ein Kind großgezogen, mich noch einmal großgezogen, als ich klein wurde und geschwächelt habe.
Einen mir sehr nahestehenden Menschen verloren – meine Mama.
Ich habe neue Wege eingeschlagen und mich selbst überrascht. Dieses Leben hat Spuren hinterlassen, sicher – aber vor allem Freude, Liebe, Mut, Humor und Dankbarkeit.
Ich schaue zurück, um zu verstehen, wie recht alles ist.
That’s the way it is – und ich mag es genau so.
Herzlichst
Betzie
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