8. September 2024

SUPERPOWER ODER SUPERFLUCH

Die Woche hat mich ein definitiv spannendes Thema nicht losgelassen.

Auslöser waren bewegende Schwingungen in meinem sozialen und beruflichen Umfeld. Schwingungen, die tatsächlich (Stimmungs-)Schwankungen machten und ich mich gefragt habe, wie ich sie, wahrlich physisch wie auch psychisch gesehen, besser handhaben könnte. 

Welchen Schutz gab es für mich: um mich emotional, reiz überflutet, mittendrin in aufwühlenden Gewässern zu distanzieren, um nicht von der einen oder anderen überschwappenden Welle letztendlich unter Wasser gezogen zu werden?

Es geht um das mir mittlerweile gut bekannte Thema der Hochsensibilität (HSP), auch Hypersensibilität oder Hochsensitivität genannt.

Schon mal von gehört?

Der Begriff HSP wurde innerhalb einer wissenschaftlichen Forschungstätigkeit durch die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron geprägt. Neben ihrer Studie gibt es verschiedene andere, sowohl aus biologischer, medizinischer als auch spiritueller Sicht.

Bei dem Versuch, HSP zu erklären, gefällt mir diese Erklärung von Manfred Klages gut, ein Psychiater, der HSP biologisch im Menschen verankert sieht. Er schlussfolgert: Bei hochsensiblen Menschen ist die Reizschwelle zu unserem Integrations-, Steuerungs- und Koordinationsorgan, dem Thalamus, niedriger als bei anderen Menschen. 

Der Thalamus wird auch als »Tor unseres Bewusstseins« genannt, weil in ihm unsere sensorischen und sensiblen Informationen umgeschaltet und so schnell und ohne Umwege direkt in die Hirnrinde weitergeleitet werden. Kurz gesagt: ungefilterter, an Wucht ungebremster Input.

Hört sich, wenn man es so liest, wissenschaftlich, trocken und unspektakulär an.

Anders ist es, wenn man an sich selbst seit Jahren unerklärliche Merkmale, Attribute, Reaktionen, gar »Symptome« spürt, die einerseits unerklärlich, andererseits zu heftig sind, um Hirngespinste zu sein, weil sie etwas in einem auslösen: nämlich intensivste Schwingungen und Schwankungen sondergleichen. 

Wenn man dann viele Jahre später erst durch Zufall selbst entdeckt, dass man selbst hochsensibel sein könnte. Wenn man plötzlich erfährt, dass es Gleichgesinnte gibt, aber vor allem Erklärungen und Antworten findet und dazulernt über diese ungewöhnlich ausgeprägten Wahrnehmungen in einem selbst.

Wenn man sich dann nicht mehr so arg wundert, warum man Millionen Gedanken zu einem einzigen Thema hat, tausende Gedanken zu gänzlich unwichtigen Themen, über die man eigentlich keinen einzigen Gedanken daran verschwenden möchte.

Meine ehemalige Arbeitskollegin und liebe Freundin Susi kennt diese Thematik ebenfalls nur zu gut.

Über viele Jahre fragte sie sich, was anders an ihr sei. Was mit ihr »nicht stimmte«, verglichen mit ihren Mitmenschen, die offensichtlich Situationen ganz anders wahrnehmen, anders fühlten und erlebten als sie selbst.

Denn erst vor ein paar Jahren hat sie in den hiesigen Medien, rein zufällig, einen Artikel zu HSP gelesen. Der Artikel beschrieb erstaunlicherweise »ihre« Welt, »ihre« Empfindungen, Wahrnehmungen und »ihre« Sicht auf Dinge und Situationen so täuschend echt, dass sie Gänsehaut bekommend dachte: »Da hat jemand ohne mein Wissen einen Exklusivbericht über mich selbst verfasst.«

Es war einerseits komplett erhellend, weil sie dachte: »Wow, das ist etwas Offizielles und es gibt auch offensichtlich andere Leute, denen es so geht.«

Menschen mit einer äußerst feinen und ausgeprägten Wahrnehmung.

Sie hat sich so oft selbst gefragt, selbst an sich gezweifelt, weil sie Dinge anders und extremer wahrnahm. Sich gefragt hat, warum Situationen, positive wie auch negative, sie emotional so extrem berührt hatten. Teils mit Freudentränen, von Gänsehaut begleitet, teils emotional aufwühlend, nachhallend und verbunden mit echten Wallungen im Körper. 

Am schlimmsten aber negative Situationen, die sie auf die Palme gebracht, zum unkontrollierten Weinen und Verzweifeln hin zum körperlichen Schmerz.

Warum sie und mir geht das ebenso, bei Gewaltszenen im Kinofilm weder hinschaut und, was noch wahrscheinlicher ist, Filme dieser Art wohlweislich erst gar nicht anschaut. 

Weil sie wortwörtlich tief unter die Haut gehen, einschneidend wären und uns nachts überhaupt nicht schlafen lassen würden, nicht verarbeitet werden könnten und wenn doch, dann leider nur in Form von Albträumen.

Aber auch leichte Themen, die beschäftigen, bewusst und auch unbewusst, können Tag oder Nacht nachhaltig »beherrschen«.

Susi hatte angefangen, sich nach dem zufällig gefundenen Artikel mehr und mehr mit der Thematik auseinanderzusetzen und sich durch gut recherchierte Lektüre weiteres Wissen anzureichern, auf ausgewählten Portalen später dann auch mal einen HSP-Test zu machen.

Als der Test Hochsensibilität bestätigte (und nein, es gibt meines Wissens nach keine offiziellen Tests, die hierzu beim Hausarzt liegen) fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und ebenso ein Stein vor Erleichterung vom Herzen, warum sie mehr mitfühlte, mehr wahrnahm und spürte als andere.

Das war nicht nur erleichternd, sondern vor allem befreiend, die Gewissheit zu haben, offiziell ganz normal zu sein! 🙂

Susi, wie auch andere HSPs betonen: HSP ist keine Diagnose, keine Krankheit. Doch da gibt es fundiertes Wissen, das es eben neurologische Unterschiede zwischen uns Menschen gibt. 

Und das hat einiges an ihren eigenen Wesenszügen, für sie einwandfrei erklärt und logisch nachvollziehbar gemacht. 

Wir Menschen suchen oft nach Antworten, wir benötigen Antworten. 

Gerade hochsensible Menschen benötigen dies noch mehr, wie ich ganz persönlich empfinde, denn wie »Profiler« decken wir zwischenmenschlich und situationsbedingt ungewollt so viel mehr auf, dass unser Kopf und Verstand automatisch unaufgefordert nach weiteren, ausgeprägteren Antworten für dieses und jenes sucht.   

Ich selbst habe auch erst vor knapp 5 Jahren, ein Jahr nach meiner Brustkrebserkrankung, von Hochsensibilität erfahren.

Als ich mich wieder und wieder fragte, was mich an äußeren Reizen so erschöpfte, was verdammt noch einmal mir so viel Energie zog. Was mich machtlos machte, was mich schnell überfordert sein ließ.

Wenn ich überfordert war, wollte ich nichts sehen und hören. Zu Freunden sagte ich: Bitte setzt mir keinen neuen Gedankensamen in den Kopf. Weil ich wusste, einmal entzündet, wie bei einem Funken, konnte ich nur schwer aufhören weiterzudenken.

Klar, die Erkrankung und die Behandlungen in all ihren Stages haben unendlich viel Kraft gekostet, die so schnell nicht einfach wieder zurückkam, gar aufgeladen werden konnte. Ich knabbere heute noch an schnell eintretenden Erschöpfungszuständen, wenn zu viel, im wahrsten Sinne des Wortes, auf mich ein rauscht.

Damals hatte ich jedoch selbst reflektierend nach eigenen Antworten gesucht, wollte mich nicht mit meiner Situation zufriedengeben. Hatte einen inneren Antreiber, der nichts unerklärt lassen wollte.

Dabei fiel mir ein Podcast in die Hände und ich dachte Bingo: Mir kamen fast Tränen, endlich konnte ich das Unfassbare in mir besser fassen. Meine nach Antworten suchenden, niemals stillstehenden Gedanken konnten sich zumindest, was dieses Gefühl und Thema betraf, zunächst beruhigen.

Ich war normal, nur eben äußerst sensitiv, leider auch im Sinne von anfällig, schutzlos, mit dieser Wesensart.

Sensoren von Menschen mit HSP sind um ein Vielfaches sensitiver, breiter gestreut und lösen schneller und stärker als bei anderen etwas aus. Es können enorme Schwingungen sein, die dann eben zu emotionalen Schwankungen führen können, eben auch negativen, wenn man nicht versteht, sich zu schützen.

Dazu gibt es unzählige Lektüre, Hörbücher, Blogs usw.

Essenziell, wenn man hochsensibel ist, ist sich klarzumachen, dass man nicht die ganze Welt retten, verändern oder jedem helfen kann. Denn dazu neigen die HSPs und dies kann ein sehr ohnmächtiges Gefühl werden, da wir alle wissen, dass keiner von uns allein die Welt retten kann.

Um sich abzugrenzen, musste meine Freundin lernen, sich mit einem Satz aus besonders für sie einnehmenden Situationen umzugehen:

»Ich kann es nicht ändern und es ist nicht meine Verantwortung« ist ihr persönliches Mantra.

Das hilft übrigens allen Menschen, denn wir alle sollten uns nach außen hin schützen können; es gibt so viele abverlangende Situationen, die zu nah an uns getragen werden. Allein durch die Flut an Medien auf allen erdenklichen Kanälen und unsere permanente Erreichbarkeit durch die Smartphones.

Abgrenzung muss ich noch gründlicher lernen. Ich bin dankbar, in Susi jemanden gefunden zu haben, der diese Thematik, diesen Wesenszug, der im Fachjargon als Fluch oder Superkraft bezeichnet wird, zu teilen. Ein Sparringpartner, der das ernst nimmt und sich genauso wie ich selbst hineindenken kann, in vielfältige Themen und Situationen, Menschen und Gefühle, ist ein Geschenk.

Ich sage nur: Es gibt eben (zwischenmenschliche) Wellen, die herunterziehen können, aber auch viele, auf denen man gleichsam obendrauf wellenreiten kann. Alles ist möglich, immer!

Was dazu noch ein interessantes Wortspiel ist: 

Im Deutschen neigen die Menschen dazu, HSP ausschließlich mit dem Verb sensibel gleichzusetzen, in Richtung »sehr empfindlich zu sein«, ein »Mimimi« zu sein, was die Psyche betrifft. 

Im Englischen heißt es »high sensitive person« und das umfasst mehr das, was Hochsensibilität noch beinhaltet:

HSP bedeutet mehr Wahrnehmen, Fühlen und Denken. Ein Gedanken-Meer. Selbst die Verarbeitung der Eindrücke ist langwieriger und intensiver als bei anderen.

Die Hochsensibilität lässt sich in mindestens drei Kategorien aufteilen: sensorische, kognitive und emotionale. 

Die sensorische HSP umfasst Reaktionen auf äußere Einflüsse wie akustische, visuelle, olfaktorische und thermische. Was das genau ist, musste ich auch zunächst googeln: Licht, Geräusche, Lärm, Gerüche, aber auch Nähe wie Umarmungen zu Menschen, die zu viel sein könnten. 

(Ich kann Dich nicht ertragen, kann Dich nicht riechen, nicht nur ein bildlicher Spruch bei HSPs.) 

Die kognitive Hochsensibilität erklärt sich durch die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge hervorragend analysieren und verstehen zu können.

Ich persönlich erlebe und stelle mir die kognitive HSP wie ein Kaleidoskop vor. Ein Gedanke, eine Wahrnehmung, ein Gefühl, das förmlich ex- oder auch implodiert, wortwörtlich in tausende weitere Gedanken und Vorstellungen, in unzählige Farben und Formen, das multipliziert mit der Endlichkeit an Möglichkeiten. Ein Gedanke, der nicht bei anderen Menschen konsequent und streng geradeaus zu Ende gedacht wird. 

Nein, bei mir entsteht ein Gedankenkonstrukt, eine Kombi aus Erlerntem, altem Wissen, an beliebiger Stelle mal Gehörtem und Gesagtem. Als würde ich eine innere Bibliothek in mir abrufen.

Ein Gedanken-Same, der zu einer Gedanken-Wüste wird, in dem ich mich verfangen, verlaufen kann.

Emotionale HSP bedeutet, dass man mit dieser Kategorie die Mimik, Gestik, Körperhaltung und den Tonfall des Gegenübers besonders genau bemerken und verarbeiten kann. Heraushören kann, ob jemand schwindelt, die Wahrheit sagt, ob er authentisch ist. Ebenso deutlich nehmen Menschen mit emotionaler Hochsensibilität auch ihre eigenen Gedanken, Empfindungen und Stimmungsschwankungen geballter und heftiger wahr als andere.

In die emotionale wie die kognitive HSP würde ich mich eindeutig einreihen.

HSP lässt sich nicht in einem einzigen Blogeintrag abdecken. Spannend ist noch, was einem HSP guttut, was nicht, wo er sein ganzes Potenzial entfalten kann (ja, es gibt Berufe, die für HSPs super sind), was ihn belastet und schwächt. Aber vor allem auch, wie man als HSP gesunde Grenzen bildet.

Denn das musste ich für mich die vergangenen Wochen erst einmal konkret herausfinden, denn es ist von Situation zu Situation unterschiedlich. Nicht nur zwischenmenschlich, auch geografisch.

Dazu gibt es im nächsten Blog mehr.

Grenzen setzen muss natürlich auch zunächst geübt werden. Grenzen setzen, für sich selbst oder gegen andere, ist niemals ein einfacher Prozess.

Super gerne würde ich auch mal einen HSP-Forscher befragen oder treffen zu diesem Thema. Ich, die doch scheinbar so viel fühlen kann, ist manchmal wie blind, wenn es um mich selbst geht.

Dafür hätte ich auch sehr gerne eine Erklärung. Warum sehe ich nicht klar bei mir? Wegen der Vielfalt an Emotionen mit und durch andere? Wer weiß, spannend auf jeden Fall.

Wie schützt ihr euch, als Mensch, egal ob hochsensibel oder nicht?

Wie setzt ihr Grenzen, ohne Mauern zu errichten? 

Ich denke, das Thema begleitet uns alle, immer und immer wieder.

In diesem Sinne einen guten Start in die neue Woche.

Herzlichst, Betzie


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